Hej!
Auch wenn es vergossene Milch ist und die Diskussion keine praktische Rolle mehr spielt: Die Zahlen der bekannt Infizierten sind tricky und können nicht zwischen den Ländern verglichen werden. Der Grafik kann man das ansehen, wenn man weiss, wie solche Kurven aussehen sollen. Was falsch ist, ist dass die Kurven einiger Länder, u.a. Schwedens, fast durchgehend linear steigen, obwohl wir mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer Durchseuchung von 1/333 Einwohner (3000/1000000) nicht einmal in der Nähe einer beginnenden Herdenimmunität sind. Die Linearität ist ein Sättigungsphänomen; die Zahl der hinzukommenden bekannten infektionen hängt nicht von der Ausbreitung des Virus, sondern von den (viel niedrigeren) Testkapazitäten ab. Und damit kommen eine (nahezu) konstante Zahl an neuen Infektionen pro Zeiteinheit dazu, eben so viele, wie man testen kann (plusminus). Daher die lineare Kurve. Eine Virusinfektion die wirklich gemessen wird, gibt zunächst eine exponetiell steigende Kurve die sich immer mehr abflacht und an einem Punkt dann "umschlägt". Danach folgt im Prinzip das Spiegelbild des ersten Teils der Kurve. Im Umschlagspunkt sind die Hälfte der Menschen, die infiziert werden können, infiziert worden, wenn nicht andere Massnahmen (Lockdown, Impfungen etc) dazukommen. Und nachdem man vor allem am Anfang in Schweden fast nur richtig Kranke testete, war ein hoher Anteil der Tests positiv (eine Folge der Gruppe, die man testete). Wie viel niedriger die Testkapazität ist, ist unterschiedlich zwischen den Ländern und zu unterschiedliche Zeitpunkten, Schweden liegt aber am unteren Ende der Skala, wir testen hier im Prinzip bisher nur, wer entweder ins Krankenhaus kommt oder dort arbeitet (und auch da lange nicht alle). Wenn du die Policy konsequent hältst und nicht änderst (was wir getan haben) und zufällig testest (was wir bisher nicht getan haben), kannst du aber Schlüsse für ein Land ziehen, weil du dann eine Stichprobe ziehst, die repräsenativ sein kann; und je nachdem, wie viele Personen du zufällig testest, ist die Wahrscheinlichkeit, dass deine Probe ganz anders ist als die Population, auf die du schliessen willst, unterschiedlich gross. Es laufen im Moment viele Zahlen rum, und viele davon sind mit diesem Manko behaftet. Es gibt eine Zahl, die davon unabhängig ist, und die im Prinzip in allen westlichen Ländern zuverlässig registriert wird: die Zahl der Menschen, die in einer Periode sterben. Und diese Zahl kann man vergleichen mit der Zahl der Menschen, die normalerweise (mit Einberechnung der Schwankungen) in diesem Monat sterben. Sterben in dem betrachteten Monat mehr Menschen als sonst, hat man eine sogenannte "Übersterblichkeit". Schweden hat als Land eine deutliche solche, in Deutschland erreicht die Zahl der Toten wohl jetzt gerade das Niveau, das man eben ausserhalb der Schwankung liegt. Im Verhältnis sind in Schweden bisher viermal mehr Menschen / 100.000 Einwohner gestorben als in Deutschland. Aber auch hier gibt es Unterschiede: Stockholm ist, wenn ich nicht etwas übersehen habe, führend, was die Übersterblichkeit betrifft; Skåne, das von lauter Ländern umgeben ist, die "dicht gemacht" haben, hat keine Übersterblichkeit. Norrland ausser Härjedalen/Jämtland auch nicht. So ja, unser Gesundheitssystem ist havariert, fast so schlimm wie Spaniens und Italiens, wir reden nur nicht darüber. Und nein, wir konnten die Strategie der anderen nicht fahren, aus unterschiedlichen Gründen, vor allem aber, weil wir viel zu wenig Ressourcen hatten. Das bedeutet, wir hätten viel härtere Massnahmen gebraucht als die anderen Länder um die Havarie unser Systems zu vermeiden; das war nicht realistisch. Deshalb hatte Anders Tegnell keine Wahl; der Mann konnte nur mit dem arbeiten, was da war. Wichtig ist, sich jetzt klar zu machen: wir sind nicht durch. Die Todeszahlen der meisten europäischen Länder fallen; die Schwedens hat leider gerade einen knick nach oben gemacht und beginnt wieder zu steigen... Was die wirtschaftlichen Konsequenzen betrifft: kein Land, auch nicht Schweden, wird gut da raus kommen, das weiss man schon. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Schweden und bspw Deutschland zu Schwedens Vorteil wird eher nicht erwartet, denn dafür sind die Länder viel zu vernetzt und die Ökonomie Schwedens, das ein kleines Land ist, viel zu abhängig von den Ökonomien der anderen Länder Europas.
//M Jäv: Ich arbeite im schwedischen Gesundheitssystem seit 2002 und bin derzeit medizinischer Berater der nationalen Verteilungsgruppe, also der Gruppe, die die in der Coronakrise kritischen Intensivmittel auf die Regionen verteilt.
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